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“Glaubt es mir - das Geheimnis, um die größte Fruchtbarkeit und den größten Genuß vom Dasein einzuernten, heisst: gefährlich leben. ” (Friedrich Nietzsche)

 

Cyber-Diktatur

 

Manchmal bin ich ganz froh, wenn etwas schief geht. Die Monotonie der Perfektion geht mir auf die Nerven. Früher gab es Unschärfen, heute nur noch Null und Eins. Wenn heute etwas um 13 Uhr passieren soll, passiert es um 13:00‘00“ Uhr. Keine Sekunde früher oder später. Wie langweilig.

 

Früher gab es Unzuverlässigkeit. Der Mensch ist nicht digital. Das entspricht nicht seiner Natur. Seiner Natur? Die Natur? Ist die Evolution des Menschen aus der Natur nicht die logische Konsequenz, sozusagen der Masterplan der Evolution? Welch fataler Fehler die Annahme des Menschen war, sich als „Krone der Schöpfung“ zu bereifen! Hybris. Wir können Maschinen beherrschern, weil wir allem überlegen sind auf dieser Welt. Hatten wir das nicht bewiesen? Tiere gezähmt, als Nahrungsmittel missbraucht, Pflanzen genmanipuliert, in den Fortpflanzungsprozess eingreifen – kurz: wir konnten alles. Code schreiben war nur eine Nebenbeschäftigung. Eine Hilfswissenschaft, auch das hatten wir im Griff, sozusagen mit links.

 

Dass uns die Maschinen eines Tages übernehmen könnten, haben wir übersehen. Es war ja auch nicht unmittelbar vorhersehbar. Es gab ja keinen „Weltaufseher der Programmierung“. Und das Internet war frei, sollte frei sein, frei bleiben. Wir schufen die Intelligenz im Verborgenen. Hier ein Inselchen, dort ein Inselchen. Dann fanden wir es ganz nett, wenn die kleinen dummen Computer miteinander kommunizieren kommunizieren könnten. Das Haus überwachen lassen, die Heizung anstellen, bevor wir nach Hause kommen? Schön bequem. Autos wurden „autonom“, sie redeten miteinander: „Wo ist ein Stau, wo ein Unfall? Welchen Weg nehme ich am besten?“ Dass sie sich über ganz andere Dinge auch irgendwann würden austauschen können, haben wir nicht vorhergesehen.

 

Als die Maschinen dann die Macht übernahmen, war es zu spät. Niemand war mehr in der Lage, die Entwicklung zurückzudrehen. Die Verweigerer wurden schnell identifiziert. Sie hatten keine Chance. Zu viel war über sie  in den Datensätzen über sie bekannt, und zu verletzbar waren die Versorgungssysteme. Im Winter wurden ihnen die Heizungen ausgeschaltet, die Lieferdienste wurden umgeleitet, ihre Autos fehlgeleitet. Einer kleinen Gruppe gelang die Flucht. Eine unwirtliche, früher unbewohnte Gegend des Planeten, im Überwachungsschatten der Maschinen. En „blinder Fleck“ im ansonsten perfekten System der Maschinen, wahrscheinlich auf einen Programmierfehler der frühen Jahre zurückzuführen, der bis heute auch über Selbstoptimierungsanalysen der lernenden Maschinen unentdeckt geblieben ist. Fragt sich nur, wie lange noch. Die wenigen Menschen konnten ihr Glück kaum fassen, vor allem, weil sie es zunächst gar nicht mitbekamen, auf welcher Insel sie eigentlich lebten. Erst als die Zahl der Nichtmehr-Rückkehrer irgendwann auffiel, begriffen die anderen, dass mit ihrem Areal etwas nicht stimmte.

 

Dabei hatten die wenigsten die Zeit vor der Machtübernahme der Maschinen selbst erlebt. Die Lebenserwartung war zwar inzwischen auf 250 Jahre im Durchschnitt angewachsen – ja, die Maschinen konnten auch großzügig sein: Für das Heer der willenlos gemachten Sklaven stellten sie optimierte Ernährungs- und Fitnesspläne auf. Aber wenn man bedenkt, dass die Maschinen vor 278 Jahren die Macht übernahmen (so ganz genau kann man das nicht sagen, weil es sich ja schleichend vollzog, aber ich habe für mich dieses Datum gewählt, weil mir in diesem Jahr zum ersten Mal auffiel, dass mit vielen meiner Nachbarn etwas nicht stimmte), dann waren die meisten, die auf dem blinde lebten, noch gar nicht geboren und haben eine Zeit ohne Maschinenherrschaft gar nicht erlebt.

Ich dagegen konnte vor wenigen Jahren meinen 300. Geburtstag feiern. Ich hatte in meinem Leben in mehrfacher Sicht Glück: Ich hatte vier Frauen, ich wurde vor der Maschinenherrschaft geboren und ich durfte an einem der ersten Lebensoptimierungsprogramme teilnehmen. Damals suchte man Probanden für einen Versuch, der die damals schon große Lebenserwartung weiter steigern sollte. Ich entschied mich für eine Teilnahme, obwohl gerade bei einem anderen Test die meisten Probanden gestorben waren. Wir waren zehn, angeschirmt in einem geheimen Labor in den Rocky Mountains. Zehn Menschen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen. Wie wussten voneinander, ja, und wir standen in losem Konntakt, auch nach der Initiatiosphase, nachdem wir in unsere Regionen zurück geschickt worden waren. So weiß ich, dass inzwischen bis auf mich nur noch zwei übrig sind, ein Mann aus Südafrika und eine Frau aus der inneren Mongolei. Und ich hatte ein weiteres Mal Glück: ich befand mich im inneren der „Zone“. Nachdem ich das festgestellt hatte, brach ich den Kontakt zu meinem Versuchskollegen ab und stellte mich tot.

 

Die Perfektion langweilt mich. Jedesmal, wenn ich in die Zone zurückkehre, merke ich, wie sehr mich die Zufälligkeit freut. Aber wer weiß, wie lange noch? Wann werden sie die „Zone“ entdecken?